What’s a deepdive?

In der Rubrik „Deepdive“ präsentiere ich euch vertiefte Einblicke in ausgesuchte Filmperlen. (Bestens geeignet für ausgedehnte Toilettengänge wissbegrieriger Filmfreaks.) Die Texte beziehen sich auf Szenen, dramaturgische Entwicklungen, Charaktere und technische Umsetzungen. Im Detail. Heisst, du begibst dich in Spoiler-Territorium.

Ganz viele weitere, ordentlich und mit viele Liebe zum Horrorfilm angeordnete Buchstaben, findest du auch bei meinem „Dokument des Grauens“. So – und jetzt wünsch ich dir einen netten Tauchgang. Bei Fragen: jederzeit

Lost Highway

Die Story

Dick Laurent

Fred Madison (Bill Pullman) wird durch ein Klingeln an seiner Haustür aufgeschreckt. An der Wechselsprechanlage bekommt er nur einen einzigen Satz zu hören: „Dick Laurent ist tot“. Ein prüfender Blick durch ein Fenster zeigt jedoch nur eine leere Straße.

Der Jazz-Musiker Fred lebt mit seiner Frau Renée (Patricia Arquette) in einer kargen, dunklen Wohnung. Ähnlich wie die Wohung sieht auch ihre Partnerschaft aus: man hat sich nicht allzuviel zu sagen, reagiert beinahe apathisch aufeinander. Als Fred eines Abends wieder einen Auftritt in seiner lokalen Jazz-Kneipe „Luna Lounge“ hat und er Renée mitnehmen möchte, lehnt sie ab, da sie sich nicht wohl fühlt. Angeblich jedenfalls, denn als Fred später am Abend zuhause anruft, nimmt sie den Hörer des Telefons nicht ab. Nach seiner Rückkehr findet Fred seine Frau jedoch brav schlummernd im Bett vor. Die Eifersucht ist allerdings gesät.

Am nächsten Morgen findet Renée in der Post einen Umschlag ohne Absenderangabe vor, welcher ein Videoband beinhaltet. Fred und Renée sehen es sich an. Es zeigt ihr Haus von außen, die Kamera nähert sich der Eingangstür, Ende der Aufnahme.

Am Abend dieses Tages macht sich Fred nach dem Zubettgehen die Mühe, Renée zu besteigen. Er bringt es jedoch überhaupt nicht, der Flop des Tages. Anschließend erzählt er Renée von einem Traum, den er ihn der Nacht zuvor hatte: Er sei im Haus gewesen, er habe gehört, wie Renée ihn rufe. Er habe sie im Bett liegend vorgefunden, doch sie sei es nicht gewesen. Nach dieser Schilderung wendet er sich Renée zu, doch was er sieht, ist nicht ihr Gesicht, sondern ein gänzlich fremdes. Er schaltet seine Nachttischlampe ein, doch seine Sinne schienen ihn zu täuschen.

Am nächsten Morgen findet Renée wieder ein Videoband vor dem Haus. Es scheint mit dem ersten identisch zu sein – doch an jener Stelle, an welcher die erste Aufnahme ihr Ende erreicht hatte, geht es hier noch weiter. Es zeigt das Innere der Wohnung bei Nacht, die Kamera begibt sich über den Gang in ihr Schlafzimmer und zeigt Fred und Renée schlafend. Die beiden rufen die Polizei, doch es werden keine Anzeichen eines Einbruchs gefunden.

 An diesem Abend sind Renée und Fred zu Gast auf einer Party, welche von Andy (Michael Massee), einem Bekannten Renées, gegeben wird. Fred wird auf einen kleinen, blassen und völlig in Schwarz gekleideten Mann (Robert Blake, im folgenden Mystery Man genannt)aufmerksam, welcher sich ihm umgehend nähert. Der Mystery Man spricht Fred an und behauptet, man sei sich schonmal begegnet. Fred möchte wissen, wo dies der Fall gewesen sei. Bei ihm zu Hause, lautet die Antwort. Genauer gesagt sei er jetzt in diesem Augenblick gerade in Freds Wohnung und Fred möge dort anrufen, um sich zu vergewissern. Fred tut dies und prompt nimmt der Mystery Man am anderen Ende der Leitung ab. Nach dem Ende dieser Begegnung fragt Fred seinen Gastgeber Andy, wer der mysteriöse Partygast gewesen sei. „Ein Freund von Dick Laurent.“ Fred erwidert spontan, Laurent sei doch tot, was bei Andy Verwunderung auslöst.

Auf dem Rückweg zum gemeinsamen Haus möchte Fred von seiner Frau wissen, woher sie Andy kennt. Sie erwidert, er habe ihr einst einen Job angeboten. Beim Haus angekommen, meint Fred darin einen Einbrecher gesehen zu haben und betritt die Wohnung daher alleine. Doch außer einem kurzzeitig läutendem Telefon findet er nichts vor und kehrt zum Auto und Renée zurück.
Später am Abend macht sich Renée für’s Bett fertig und begibt sich danach auf die Suche nach Fred, den sie wider Erwarten nicht im Schlafzimmer vorfindet. Sie ruft ihn, erhält keine Antwort. Im Wohnzimmer ist er auch nicht, sie läuft den dunklen Flur in die Schwärze hinein. Kurz danach taucht Fred aus dieser Schwärze auf.

Der nächste Morgen. Fred findet prompt ein weiteres Videoband vor, sieht es sich dieses Mal alleine an. Wie gehabt: Das Haus von außen, die Kamerafahrt über den dunklen Flur ins Schlafzimmer, doch dann zeigt die Kamera erschreckende Bilder: Fred kniet blutbesudelt über der zerstückelten Leiche von Renée.

Fred wird verhaftet und zum Tode auf dem elektrischen Stuhl verurteilt. Im Todesstrakt wird Fred von Schlaflosigkeit und heftigen Kopfschmerzen gepeinigt, er wird von Visionen regelrecht überfallen.

Pete Dayton

Eines Morgens, während der üblichen Inspektion, macht ein Gefängniswärter eine eigentümliche Entdeckung. In Freds Zelle sitzt nicht mehr Fred, sondern ein unbekannter junger Mann. Er wird als Pete Dayton (Balthazar Getty) identifiziert und mit einem Schulterzucken wieder in die Obhut seiner Eltern (Gary Busey und Lucy Butler) übergeben. Zwei Agenten heften sich natürlich an seine Fersen.

Pete ist mit Sheila (Natasha Wagner) liiert und arbeitet als Automechaniker in „Arnie’s Garage“. Er hat keine Ahnung, was mit ihm passiert ist und es erscheint alles als schlechter Traum – wäre da nicht die Kopfwunde übriggeblieben, welche ihn mit Kopfschmerzen segnet. Pete ist der Stammechaniker von Mr. Eddy (Robert Loggia), einem zwielichten Gangster und Porno-Produzenten, den die beiden observierenden Beamten als Dick Laurent identifizieren. Eines Tages fährt Mr. Eddy wieder in der Werkstatt vor und Pete wird auf seine Begleitung aufmerksam: eine sehr beeindruckende junge Blondine names Alice Wakefield (Patricia Arquette). Pete und Alice bandeln miteinander an, was von Mr. Eddy nicht unbemerkt bleibt. Ebenso wird Petes eigentliche Freundin Sheila mißtrauisch und liefert Pete vor den Augen seiner Eltern eine heftige Szene.

In einem Gespräch zwischen Pete und seinen Eltern stellt sich heraus, daß in der Nacht von Petes Verschwinden etwas grauenvolles passiert sein muß. Er kehrte in Begleitung von Sheila und eines anderen Mannes nach Hause zurück, doch mehr wollen ihm seine Eltern nicht erzählen.

Die Lage beginnt stressig zu werden. Pete möchte in Erfahrung bringen, was in jener Nacht mit ihm passiert ist, doch seine Eltern weigern sich, es ihm zu erzählen. Seine Freundin ist ihm davongelaufen, seine neue Bekanntschaft Alice provoziert Ärger mit Mr. Eddy. Und ein nächtlicher Anruf von Mr. Eddy bringt das Faß zum Überlaufen: Mr. Eddy reicht den Hörer an einen Freund weiter, den Mystery Man. Dieser behauptet, er und Pete seien sich schonmal begegnet, in seiner Wohnung.

Pete und Alice beschließen, miteinander abzuhauen. Alice hat einen Plan: Sie lernte einst einen Mann namens Andy kennen, welcher sie als Pornodarstellerin bei Mr. Eddy einführte. Sie und Pete wollen in Andys Haus eindringen, ihn ausrauben, das gestohlene Zeug bei einem Hehler in der Wüste loswerden und dann das Weite suchen.

Gesagt, getan. Bei dem Einbruch geht eine Kleinigkeit schief, Andy kommt zu Tode. Das bringt Pete ziemlich aus der Reihe, er will ins Badezimmer. Der Flur vor dem Badezimmer erscheint ihm jedoch endlos lang, die Türen sind mit Nummern versehen. Er öffnet eine Tür und bekommt einen Mann zu sehen, der sich schnaufend auf einer Art „Huren-Ausgabe“ von Alice zu schaffen macht. Pete schlägt die Tür wieder zu – der Flur hat wieder sein normales Aussehen, die Zahlen an den Türen sind verschwunden. Er kehrt zu Alice zurück, die beiden machen sich auf den Weg.
In der Wüste bei der Hütte des Hehlers angekommen stellen sie fest, daß dieser noch nicht eingetroffen ist und sie warten müssen. Alice und Pete beginnen, sich im Scheinwerferlicht zu lieben. Pete wiederholt mehrfach „Ich will Dich“, bis Alice sich plötzlich erhebt, ihm sagt, er würde sie niemals haben und nackt in die Hütte verschwindet.

Fred Madison

Pete erhebt sich vom Boden – doch er ist nicht mehr Pete, er ist Fred Madison. Fred folgt Alice, doch er findet in der Hütte nur den Mystery Man vor, welcher mit einer Videokamera bewaffnet auf Fred losgeht. Fred flieht – und begibt sich zum „Lost Highway Hotel“.

Im „Lost Highway Hotel“ angekommen sieht er Renée, wie sie nach einer schnellen Nummer mit Dick Laurent das Gebäude verläßt. Fred schlägt Dick Laurent zusammen und verfrachtet seinen Körper in den Kofferraum seines Wagen, heimlich beobachtet vom Mystery Man. In der Wüste angekommen öffnet Fred den Kofferraum wieder und es kommt zu einem Handgemenge zwischen ihm und Dick Laurent – einem kurzen Handgemenge jedenfalls, denn der Mystery Man erscheint auf dem Spielplan und drückt Fred ein Messer in die Hand, mit welchem er Dick Laurent die Kehle durchschneidet. Der Mystery Man zeigt dem Sterbenden einige Szenen aus einem Pornofilm, in welchem Renée zu sehen ist und verschwindet wieder.

Es ist wieder Tag, vor dem Hause von Fred Madison. Fred nähert sich der Eingangstür, klingelt und spricht die Worte „Dick Laurent ist tot“ in die Wechselsprechanlage. Er wird von den beiden Polizeibeamten, welche die Morde an Renée und Andy untersuchen, gesehen, es kommt zu einer Verfolgungsjagd. Fred flieht mit dem Auto in den Sonnenuntergang der Wüste, bis Blitze durch den Innenraum des Wagens zucken, seine Haut Blasen zu werfen beginnt und plötzliche Stille über den Highway hereinbricht.

Im Detail

David Lynch

„Besser man weiß nicht so viel über die Bedeutung der Dinge oder wie man sie interpretieren könnte, denn sonst wird man zu viel Angst haben, um sie einfach geschehen zu lassen. Psychologie zerstört das Mysterium. Es kann auf bestimmte Neurosen oder andere Dinge zurückgeführt werden, und sobald es definiert wurde und einen Namen trägt, verliert es seine Mysteriösität und sein Potential für eine beeindruckende, unendliche Erfahrung.“

Dieser Ausspruch von David Lynch kann als Leitfaden für seine Arbeit als Drehbuchautor und Regisseur angesehen werden, denn dieser Aspekt ist in seinen Spielfilmen stets präsent. Der Workaholic und Allround-Künstler beschäftigt sich in seinen filmischen Arbeiten bevorzugt mit den Abgründen der menschlichen Psyche und überschreitet hier oftmals die Grenzen, welche durch das Kino der jeweiligen Zeit gesteckt sind. Schon bei seinem ersten abendfüllenden Film Eraserhead wurde dies überdeutlich. Der Film war dermaßen „abgedreht“, daß Lynch es schwer hatte, einen Verleih zu finden, woraufhin Lynchs nächste Arbeiten The Elephant Man und Dune diesen Aspekt zwar noch immer in sich trugen, allerdings verhältnismäßig zahm zur Sache gingen. Die beiden Filme brachten Lynch zwar das Eintrittsticket ins Mainstream-Kino und sogar eine Oscarnominierung ein, aber glücklich schien Lynch damit nicht zu sein – es scheint, als ob er sich bei seinen folgenden Werken wieder langsam in seine ursprünglich eigenschlagene Richtung vortasten würde. Blue Velvet und Wild at Heart sorgten neben internationaler Beachtung vor allem für handfeste Skandale. Mit der verhältnismäßig kleinen Produktion Lost Highway erreichte Lynch wieder jenen Level der Mysteriösität, auf welchem David Lynch sich anscheinend am wohlsten fühlt: die erzählte Geschichte ist nur vordergründig und damit zweitrangig, was zählt ist die Erfahrung des Geheimnisvollen und des Abstiegs in die Niederungen der Seele.

Bei Lost Highway wagt Lynch erstmals unverblümt, seine künstlerischen Bestrebungen nicht nur auf die Leinwand zu beschränken, sondern auch den Zuschauer zu einem Bestandteil desselben zu machen. „Normale“ Filme oder auch Kunstwerke aus der Literatur oder der Malerei verfügen über eine gewisse Eigenständigkeit – der Betrachter kann sie distanziert begutachten, den Kunstgehalt alleine anhand des Werkes bestimmen. Sozusagen aus einer göttlichen Perspektive heraus. Bei Lost Highway funktioniert das nicht; man muß sich mit dem Film uneingeschränkt konfrontieren, ihn auf sich wirken lassen und die eigenen Reaktionen und Empfindungen in die anschließende Betrachtung des Werkes mit einfließen lassen. Ansonsten erscheint der Film in künstlerischer Hinsicht wie ein edler Wein ohne eine schmeckende Zunge.

Der Zuschauer im Fokus

Lynch legte den ganzen Film daraufhin aus, daß die Empfindungen des Zuschauers eine tragende Rolle in den 135 Minuten Laufzeit spielen – anstelle wie schon beispielsweise bei Wild at Heart, dessen Anreiz oftmals auch auf der provozierten Reaktion des Zuschauers beruht, wobei dieser Aspekt jedoch in eine geradlinig erzählte Geschichte eingewoben ist, sprengt Lynch bei Lost Highway diese Grenze und erzählt die Geschichte nicht mehr auf der Leinwand, sondern in den Köpfen und den Herzen des Publikums. Die von ihm erzählte Geschichte kann so überhaupt nicht stattfinden, ja ist sogar paradox und nicht nachvollziehbar. Ich fühle mich stets an die optisch verwirrenden Zeichnungen von Escher erinnert – wo Escher mit einer unmöglichen Perspektive arbeitete, vergreift sich Lynch am Fluß der Zeit und verpackt die Handlung in ein gigantisches Paradoxon, wodurch man sie nicht durch die gezeigten Bilder vermittelt bekommt, sondern sie selbst erkennen muß. Hierdurch hat sich für den Zuschauer das Thema nicht erledigt, sobald der Vorhang sich wieder geschlossen hat und er das Kino verläßt – die absolute Verwirrung und die in den Gesichtern ablesbaren Fragezeichen sind ein beabsichtigter fester Bestandteil von Lynchs Werk. Lost Highway ist Kunstkino in Reinstform – mit allen Konsequenzen.

Wenn man sich die obenstehende Handlungsbeschreibung durchliest, ist dieser Effekt bereits spürbar. Die Handlung erscheint als widersprüchlich, ja sogar zusammenhangslos. Vom eigentlichen Inhalt des Films hat man hier noch nicht viel erfasst – ähnlich wie der Kinogänger beim Ende des Films. Wenn ich nun behaupte, Lynch erzähle eine Geschichte der Eifersucht eines schizophrenen Geistes, dürfte dies sowohl für den Leser als auch den Kinogänger als nicht sonderlich einleuchtend erscheinen. Wie ich schon schrieb, muß man die eigentliche Handlung erstmal erkennen – und da Lynch in fast jeder Einstellung seines Film entsprechende Hinweise versteckte, stinkt das förmlich nach einer Analyse. Einige Hinweise bringe ich hier, um den Einstieg in den Film zu erleichtern – wer den Film vollständig ergründen möchte, dürfte im Drehbuch eine gute Ausgangssituation vorfinden.

Wer braucht schon Chronologie?

Ich schrieb bereits, daß Lynch in seinem Film ein Zeitparadoxon schafft. Eine Grundvoraussetzung für das Verständnis ist daher, den chronologischen Fluß der Zeit völlig außer acht zu lassen. Es ist lohnender, sich am inneren Aufbau von Lost Highway zu orientieren. Eine grobe Gliederung anhand der Verwandlung jeweiligen Hauptfigur reicht hier fur den Anfang bereits aus:

  • Erster Teil: Fred Madison und Renée
  • Zweiter Teil: Pete Dayton und Alice
  • Dritter Teil: Fred Madison

Diese Gliederung weist der Film für den Zuschauer spürbar vor. Sobald Fred von der Bildfläche verschwunden ist und Pete die zentrale Rolle übernimmt, hat man den Verdacht, man säße plötzlich in einem gänzlich anderen Film. Betrachten wir daher die ersten beiden Teile genauer, kristallisieren sich erste Gemeinsamkeiten heraus:

  • Fred/Pete liebt eine Frau
  • Fred/Pete hat Kontakt mit dem Mystery Man in Verbindung mit einem Telefon
  • Renée/Alice bekam von Andy einen Job angeboten
  • Fred/Pete hält sich einmal in Andys Haus auf
  • Fred/Pete verliert die Frau, die er liebt
  • Fred spricht von Dick Laurent, Pete kennt Mr. Eddy. Die Polizisten identifizieren Laurent/Eddy als die gleiche Person.

Es drängt sich der Gedanke auf, daß Fred und Pete sowie Renée und Alice ebenfalls jeweils ein und diesselbe Person sind. Erzählt Lynch daher vielleicht zweimal die gleiche Geschichte? Rein vordergründig dürfte dies jedoch nicht möglich sein, schließlich betritt Pete erst nach Freds Inhaftierung die Bühne, rein chronologisch kann es daher nicht die gleiche Geschichte sein. Doch da wir den zeitlichen Ablauf außer acht lassen, haben wir keinen Grund, die ersten beiden Teile der Gliederung tiefergehend zu betrachten und nach weiteren Indizien zu suchen.

Jetzt stoßen wir auf eine wahre Fundgrube von gut versteckten Hinweisen:

  • Das Gespräch zwischen Fred und dem Mystery Man während Andys Party wird im wesentlichen wortgleich zwischen Pete und dem Mystery Man wiederholt. Das gleiche Gespräch zum gleichen Zeitpunkt?
  • Renée wird am zweiten Tag durch das Bellen eines Hundes in der Nachbarschaft geweckt. Fred will wissen, wem der Hund gehört – nun, eigentlich sollte er es wissen, denn in der Einstellung in welcher Pete im Garten herumliegt, sieht man den Hund im Garten des Nachbars herumlaufen.
  • Die Wohnung von Fred und Renée ist düster, weite Bereiche werden von der Dunkelheit verschluckt, die Musik ist bedrohlich. Petes Welt erstrahlt in hellem Licht, wie uns die Gartenszene gleich vermittelt. Ein krasser Gegensatz, wie die dunklen und hellen Aspekte der Psyche?
  • Als Pete im Radio die Musik hört, welche Fred in der Bar spielte, kann er sie nicht ertragen. „Gute“ und „böse“ Seite der Psyche zum zweiten? Zumal die Musik jeweils am Arbeitsplatz von Fred/Pete erschallt – übrigens haben auch beide eine Begegnung mit Renée/Alice an diesem Ort, welche durch Laurent/Eddy überschattet wird.
  • Renée erscheint schon beinahe als dämlich und enervierend, Alice ist dominant und begehrenswert. Wie schon die Umgebung von Fred und Pete finden wir auch hier einen krassen Gegensatz, „Gut“ und „Böse“ zum dritten.
  • Fred ist im Bett eine Niete, Pete eine Erfahrung. Jeder der beiden bringt eine Bettszene hinter sich, beide sind exakt gleich inszeniert.

Die Idee mit der gespaltenen Persönlichkeit einer Person anstelle zweier voneinander unabhängiger Figuren wird beim Nachdenken immer einleuchtender. Durch die Geschehnisse, die in jeder der beiden Welten stattfinden, läßt sich sogar ein tatsächlicher chronologischer Ablauf der Geschehnisse feststellen.

Interpretation

Mein Senf

Ich stelle hier jetzt eine Behauptung auf die zur individuellen Überprüfung geeignet ist: Fred und Pete halten sich zum Beispiel in Andys Haus auf (dem „Lost Highway Hotel“), zum gleichen Zeitpunkt. Logisch, denn Fred und Pete sind ja die gleiche Person.

Wir wissen, daß Fred und Renée im Rahmen einer Party dort eingeladen waren, doch weshalb steht bei Petes Eintreffen das Haus ebenso leer wie während Freds Aktivitäten im „Lost Highway Hotel“ im dritten Teil des Films? Hier erinnern wir uns an die Szene, in welcher Fred seiner Frau von seinem Traum erzählt. Nach der Rückkehr ins traute Heim wird dieser Traum zur Realität, Fred sucht Renée. Er kehrt zu Andys Haus zurück (im dritten Teil des Films findet man den Beleg, man vergleiche den Flur mit jenem, in welchem Pete auf der Suche nach dem Badezimmer landet), die Party ist beendet. Fred/Pete findet Renée und Laurent dort vor, Renée verläßt nach dem Nümmerchen das Gebäude, Fred/Pete tötet Laurent (den Pornoproduzenten) und Andy (brachte Renée/Alice zum Pornofilm), ebenso tötet er seine Frau nach seiner Rückkehr in die gemeinsame Wohnung.

Hier beachte man auch die kleinsten Details – Pete sieht Alice in dem Pornofilm mitwirken, in den späteren Szenen mit Fred an seiner Stelle ist Renée zu sehen. Bevor Pete das Haus betritt, schaut er kurz auf seine Uhr – man vergleiche die Uhrzeit mit jener, welche man auf der Uhr in Freds Zimmer des „Lost Highway Hotel“ ablesen kann.

Starker Tobak, und auf dieser detailgenauen Basis arbeitet der ganze Film. So läßt sich durch genaue Analyse sogar der genaue Zeitpunkt des Todes von Renée/Alice bestimmen, die Furcht Freds vor der Videokamera des Mystery Man, die Hinrichtung Freds auf dem elektrischen Stuhl ist in dem Film zu sehen, usw. Lynch bombardiert uns mit Unmengen von Querverweisen, die sich zu ergründen anbieten und welche mit Red Herrings ineinander verwoben sind.

Im Auge des Betrachters

Ein totales Zerdröseln des Films strebe ich hier nicht an; ich habe schon ein schlechtes Gewissen, weil ich hier Ansatzpunkte geliefert habe – schließlich liegt das nicht im Interesse Lynchs. Wie durch das den Kommentar einleitende Zitat schon deutlich gemacht, zerstört eine Analyse leicht das eigentliche Anliegen des Mysteriums, was er auch in einem späteren Interview bzgl. Lost Highway betonte. Hier wird gerne seine Aussage zitiert, an Lost Highway gäbe es nichts zu verstehen.

Hier fehlt allerdings der nachfolgende Satz des Interviews, in welchem er sagte, der Versuch des Verstehens sei genau das, was er dem Zuschauer schwermachen wolle, denn das Verstehen sei unwichtig. Gegenüber der Zeitschrift Rolling Stone (6. März 1997) wurde er in dieser Hinsicht noch etwas genauer und kritisierte das Publikum mit seiner für die heutige Zeit typische Einstellung gegenüber dem Medium Film:

„Jedes einzelne Element eines Films muß auf Anhieb verstanden werden – und zwar verstanden auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Es ist eine wahre Schande. Es gäbe so viele Orte, an welche sich die Leute begeben könnten, wären sie nicht so eng an diese Beschränkung gebunden.“

Hier gebe ich David Lynch vollkommen recht. Das publikumswirksame Kino der heutigen Zeit belegt seine These. Die erzählte Geschichte und ihre Details sind oftmals wichtiger als der Film als in sich geschlossenes Objekt, die Qualität eines Films wird an Kleinigkeiten und Teilaspekten gemessen, grandiose Effekte und bombastischer Soundmix machen aus dünnen Filmchen Meisterwerke und kleine Fehler degradieren ein gelungenes Gesamtwerk zum Müll – ganz als ob ein Gemälde von Turner Mist wäre, weil die Darstellung der Sonne nicht hundertprozentig authentisch gelungen ist. Die Gesamtheit eines Films ist nicht mehr viel wert und Lynch gelang das Kunststück, diese Kritik mit Lost Highway nicht nur zu äußern, sondern sie durch das Publikum auch noch bestätigen zu lassen. Wahrscheinlich saß er grinsend in der Ecke, als die ersten renommierten Kritiker wie Roger Ebert den Film einstimmig niedermachten, weil er in sich nicht schlüssig sei und sie sich von Lynch verarscht fühlten. Ich selbst war hier auch keine Ausnahme, denn nach dem Kinobesuch lag ich nachts wach im Bett und versuchte, die Handlung zu ergründen, anstelle den Film als Ganzes zu betrachten.

Who cares?

Daß Lynch eine Analyse des Films ermöglicht, deutet darauf hin, daß er zwar seine Kritik anbringen wollte aber keine Amibitionen hat, diesbezüglich die Welt zu verändern. Lost Highway hat seinen komplex-verdrehten Aufbau nicht, um die Zuschauer zum Nachdenken anzuregen und das Lynch’sche Kunstverständnis unter die Leute zu bringen. Lost Highway hat man dann erst wirklich verstanden, wenn man zur Erkenntnis gelangt ist, daß man ihn zwar verstehen kann, ihn jedoch nicht verstehen soll. Diese hauptsächliche Aussage des Films bildet die Grundlage für den Sachverhalt, den ich einleitend beschrieb: Der Film alleine kann die Aussage nur dann bilden, wenn der Zuschauer zu einem Teil des Gesamtwerkes wird, denn ansonsten würde der vorhergegangene Satz mit den Worten „verstehen kann“ enden. Es ist absolut gerechtfertigt, im Falle von Lost Highway den Terminus „Filmkunst“ zu verwenden, denn hier handelt es sich um wesentlich mehr als nur einen Film.

Die Umsetzung

Betrachten wir nun abschließend den Film aus der handwerklichen Sicht. Über das Drehbuch braucht man wohl nicht mehr viel zu sagen, daß hier jedes einzelne Wort ausgefeilt wurde und seinen festen Platz einnimmt, dürfte wohl klar sein. Lynch und Gifford (mit welchem er bereits bei Wild at Heart zusammenarbeitete) ließen sich auf keine Schnörkel ein, alles hat seinen Zweck und dient dem Ziel des Films – angefangen von beiläufigen Sätzen wie „Wem zur Hölle gehört dieser Hund“ bis zu den vermeintlich hahnebüchenen Dialogen zwischen Fred und Renée.

Die Regiearbeit Lynchs dient ebenso alleine dem Anliegen des Films, es gibt keine Effekthascherei und Lynch drängt sich als Regisseur nicht in den Vordergrund. So sollte es sein – mögen sich Regisseure wie James Cameron oder Scorsese, welche Filmen nicht nur ihre Optik aufdrücken, sondern oftmals auch Kameramännern wie Ballhaus noch Gelegenheit bieten, deren Markenzeichen im Film unterzubringen, davon eine Scheibe abschneiden. Und die Art und Weise, wie er dem Zuschauer das Geschehen näherbringt, hat mich zutiefst beeindruckt; vor allem die erste halbe Stunde bringt mich stets zum Schwärmen. Wo er Petes Welt vorwiegend konventionell inszeniert, schweift er bei dunklen Gegenstück (Freds Wohnung) in eine Erzählweise ab, welche so manchen Horrorfilm geehrt hätte. Das Zusammenspiel von Licht und Schatten, die Übergänge zwischen Realität und Fiktion (wie der kurze Einsatz der Nebelkanone in der Traumsequenz) und natürlich die in Freds Gemäuer vorherrschende unheimliche Soundkulisse mit ihren extremen Lautstärkeschwankungen und dem lauten, tieffrequentem Grummeln als Soundkulisse – erstklassig.

Was ebenso auffällt ist sein Umgang mit der Musik, allen voran natürlich die Schlüsselszenen, in denen die Musik von Rammstein (die Titel Heirate Mich und Rammstein) zum Einsatz kommt und die Musik von der Stimmung bis zum Tonschnitt den Eindruck erweckt, als sei sie extra für den Film komponiert worden. Der Mann weiß, wie man eine heftige unterschwellige Stimmung erzeugt. Der einzelne Regiefehler (als Pete und Mr. Eddy die Garage zu einer Probefahrt verlassen) sei ihm verziehen, da dieser kleine Ausrutscher keine Bedeutung mit sich bringt und auch nicht ablenkt.

Was die Kameraarbeit betrifft, kann man ebenso zufrieden sein. Die Bilder sind auf den ersten Blick nicht imposant (beispielsweise kaum Einsatz von niedrigen Brennweiten) und wirken eingangs auch verstörend ungewöhnlich. Der Film ist derart düster, daß die Optik von Filmen wie Blade Runner schon beinahe als himmlisches Freudenfest erscheint, was den Zugang zugunsten der Stimmung wiederum erschwert. Lynchs eigenwillige Ausflüge wie absichtliche Unschärfen oder verwackelte Langzeitbelichtungen mit kleiner Blende und schnellen Schnittfolgen geben dem Zuschauer erstmal den Rest, die Sehgewohnheiten werden auch hier hemmungslos auf den Kopf gestellt. Daß es keine Amateurarbeit ist wird erst dann richtig deutlich, wenn man sich die einzelnen Frames betrachtet – man beseitigt so die Irritation und stellt fest, daß die Bildkomposition umso eindrucksvoller ausfällt, je ungewöhnlicher eine Einstellung auf Zelluloid gebannt wurde. Die Beleuchtung so hinzukriegen muß ein wahrer Alptraum gewesen sein – bildfüllende Farbkompositionen wie „dunkelgrau auf schwarzem Grund“ findet man im Filmbusiness nicht häufig als Leitmotiv. Ich habe mir den Film noch nicht auf VHS-Video zu Gemüte geführt, habe aber den Verdacht, daß die Farbgebung und die Lichtverhältnisse dieses Medium oftmals überfordern dürften.

Auch an den Schauspielern gibt es nicht viel auszusetzen. Bill Pullman hat den wohl außergewöhnlichsten Film seiner Karriere gedreht und auch wenn er nicht zur Elite der Schauspielerkaste gehört, wird er seiner Rolle völlig gerecht. Der Name Patricia Arquette bereitete mir im Vorfeld etwas unbehagen aber nach dem ersten Ansehen des Films kann ich ihn mir nur schwer ohne sie in der weiblichen Hauptrolle vorstellen. Die Kurzauftritte von Henry Rollins (brav im Rollkragenpullover verpackt, seine Tätowierungen schwenkt er gläcklicherweise nicht in die Kamera) und vor allem Richard Pryor kommen auch nicht ungelegen – was ich allerdings von Jack Nance nicht behaupten kann, seine Person lenkte mich vom Film ab. Da er mittlerweile jedoch leider verstorben ist, möchte ich auf seinem übertriebenen Auftritt jedoch nicht weiter herumhacken. Äußerst überrascht war ich jedoch von Robert Loggia. Aus mittelmäßigen TV-Produktionen bekannt und durch sein nicht sonderlich beeindruckendes Schauspiel in Independence Day habe ich hier mit dem schlimmsten gerechnet, aber seine Verkörperung des notgeilen, schräg grinsenden Fieslings Dick Laurent/Mr. Eddy beeindruckte mich sehr. Bei ihm unterliege ich bereits dem „Jack Nicholson“-Effekt: Wann auch immer ich seitdem Robert Loggia irgendwo sehe, vergleiche ich die von ihm verkörperte Rolle prompt mit jener aus Lost Highway.

Must-See?

Eine Empfehlung für Lost Highway auszusprechen ist gar nicht so leicht. Auf der einen Seite haben wir es hier mit Lynchs eindeutig bestem Werk zu tun, welches den Zuschauer auch zum Ping-Pong-Ball der Emotionen macht und gegen welches auch ehemals skandalöse Produktionen wie Wild at Heart wie ein erholsames Balsam wirken. Wenn ein Film den Zuschauer im Kino derart unter Druck setzt wie Lost Highway, ist das normalerweise eine uneingeschränkte Empfehlung wert. Es ist schwer, einen Film in den letzten 10 Jahren Kinogeschichte zu finden, der Lost Highway in qualitativer Hinsicht überlegen ist. Auf der anderen Seite ist es aber ein Film, der gegenüber dem Publikum rotzfrech ist und es darauf anlegt, daß man sich danach vorkommt wie der dümmste Mensch auf Erden. Der Joe Average des Popcorn-Kinos würde schon bei Erwähnung des Filmtitels hysterisch kreischend wegrennen. Lost Highway ist eine visuelle und geistige Orgie, und da solche Filme schwer einzuordnen sind, hat man letztendlich keine andere Wahl, als das Kino auf eigenes Risiko zu betreten. Vielleicht möchte man sich danach gleich wieder an der Kasse anstellen, vielleicht langweilt man sich aber auch zu Tode. Falls letzteres eintritt bleibt dazu noch der schale Nachgeschmack, daß man mit dieser Reaktion dem kreativen Geist von David Lynch applaudiert.

Wer sich den Film ansehen möchte, sollte dies wegen der Lichtverhältnisse entweder in einem Kino tun oder zuhause das Zimmer möglichst vollständig abdunkeln und den Ton nach Möglichkeit auf die HiFi-Anlage legen, diese ein wenig aufdrehen und bis zum Filmende die Finger vom Lautstärkeregler lassen. Ein aktiver Subwoofer kann bei diesem Film auch richtig Spaß machen. Ich habe es noch nicht überprüft, verbinde jedoch mit der VHS-Version sowie einer eventuellen Fernsehausstrahlung keine allzu großen Hoffnungen, was ich mit den extremen Lichtverhältnissen und den starken Änderungen der Dynamik im Sound begründe. Benutzer von optischen Medien haben hier freie Bahn und müssen sich kaum Sorgen machen – von den LD-Besitzern mal abgesehen, diese sollten nach Möglichkeit von dem US-Release Abstand nehmen und ihre Fühler nach dem japanischen Release ausstrecken. Erstens ist die Bildqualität der US-Pressung eher schlecht und, was schlimmer ist, es handelt sich um eine Pressung aus dem Hause Sony DADC (mit sozusagen integriertem Verfalldatum). Der Film hat sich jedoch schon schnell nach seiner Erstaufführung zu einem Kultfilm gemausert und es ist nicht schwer, den Film im Programmkino um die Ecke zu erwischen (sowieso nur dort; aufgrund des antikommerziellen Charakters ging der Film in den USA auch nur mit 13 und in Deutschland mit 26 Kopien an den Start).

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2 thoughts on “Deepdive: Lost Highway (1997)

  1. Oh, ich glaube, ich muss mal meine Unterlagen aus dem Studium wieder rausholen, damit ich sachkundig mitreden kann. Wir haben nämlich ausführlich über diesen Film gesprochen. Unsere „Lösung“ war, dass Lynch die Unlogik von Eifersucht dokumentiert.

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