What’s a deepdive?

In der Rubrik „Deepdive“ präsentiere ich euch vertiefte Einblicke in ausgesuchte Filmperlen. (Bestens geeignet für ausgedehnte Toilettengänge wissbegrieriger Filmfreaks.) Die Texte beziehen sich auf Szenen, dramaturgische Entwicklungen, Charaktere und technische Umsetzungen. Im Detail. Heisst, du begibst dich in Spoiler-Territorium.

Ganz viele weitere, ordentlich und mit viele Liebe zum Horrorfilm angeordnete Buchstaben, findest du auch bei meinem „Dokument des Grauens“. So – und jetzt wünsch ich dir einen netten Tauchgang. Bei Fragen: jederzeit

Cannibal Ferox

Die Story

In New York wird ein junger Mann erschossen. Er ist der Bruder von Mike (John Morghen), der sich dummerweise bei seinen Drogengeschäften mit den falschen Leuten anlegte und nun von diesen gejagt wird. Doch niemand scheint zu wissen, wo er steckt.

Zur gleichen Zeit bricht die Anthropologin Gloria (Lorraine De Selle) in das Amazonasgebiet auf. Sie möchte eine Arbeit über den Kannibalismus schreiben und beweisen, daß dieser, entgegen der Aussagen ihrer Professoren, auch in der heutigen Zeit noch existiert. Gloria wird von Freunden begleitet, darunter Pat (Zora Kerova). Erste Anzeichen ausgesprochen primitiver Wilder finden sich schnell, ebenso Zeugnisse von schrecklicher Gewalt.

Plötzlich stolpern ihnen zwei Gestalten aus dem Busch entgegen: Mike und ein namenloser Freund. Mike berichtet ihnen entsetzliches: Sie seien auf ein Dorf mit Eingeborenen gestoßen, die ihnen schreckliches angetan hätten, sie hätten gerade noch rechtzeitig fliehen können, undsoweiter. Nach einiger Zeit stellt sich heraus, daß Mike geschwindelt hat – in Wahrheit ist er ein Drogendealer, der die Eingeborenen versklavte und sie folterte, bis sie den Aufstand probten. Doch Gloria und ihre Freunde erfahren die Wahrheit zu spät – zu diesem Zeitpunkt hat Mike sie bereits wieder zurück ins Dorf der Einheimisch- en geführt, um sich weiterhin an ihnen zu vergehen. Doch die einheimischen Wilden schlagen zurück. Ihre kannibalistischen Wurzeln melden sich zurück und sie töten die Weißen auf grausamste Art und Weise. Lediglich Gloria kann fliehen – und erhält ihr wohlverdientes Examen.

Ein wahrhaft durchdachter, wenn nicht gar oscarverdächtiger Plot, nicht wahr? Spaß beiseite, derartiger Schwachsinn ist symptomatisch für die italienische Exploitation der 70er und frühen 80er Jahre und des Kannibalenfilms im besonderen. Obige Inhaltsbeschreibung stellt den Höhepunkt einer Entwicklung dar, welche zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Cannibal Ferox bereits ein knappes Jahrzehnt am Laufen war. Regisseur Umberto Lenzi verteidigt seinen Film auch noch heute felsenfest als wichtige Abhandlung über das Thema Kannibalismus und als durchdachte Theorie , welche besagt, daß der Kannibalismus eine Folgeerscheinung der Zivilisation sei. Tja, schauen wir uns das Ding mal genauer an und prüfen, was von Lenzis Aussage zu halten ist. Hierzu sollte man jedoch die Hintergründe kennen.

Umberto Lenzi

Umberto Lenzi gilt als einer der großen italienischen „Trash-Götter“ der Exploitation, neben Lucio Fulci, Ruggero Deodato und Joe d’Amato. Im Bereich des Kannibalen-Trashs hat Lenzi jedoch einen besonderen Platz inne: Er ist sozusagen der Erfinder dieser späterhin sehr populären Filmgattung, er drehte sozusagen das „Original“. Doch wer ist dieser Mann überhaupt?

Lenzi begann mit der Filmerei Anfang der 60er Jahre. Man könnte ihn einen Vielfilmer nennen , bis heute drehte er etwa 70 Filme. Seine ersten Sporen verdiente er mit Sandalenfilmen wie Zorro contro Maciste (1963, dtsch. Zorro gegen Maciste – Kampf der Unbesiegbaren) und seinen Sandokan-Filmen. Mitte der 60er sorgte er für einige der vielen James-Bond-Nachzieher aus italienischer Produktion, wie zum Beispiel Superseven chiama Cairo (1966, dtsch. Höllenhunde des Secret Service). Schon bald danach begann er damit, sich immer mehr auf Filme zu konzentrieren, die von ihrer Gewalt lebten, vornehmlich Thriller. Mit anderen Worten: Eigentlich war Umberto Lenzi alles andere als ein Regisseur, den man vermissen würde, wäre er nicht mehr da.

Rise of the Snuff

Anfang der 70er Jahre war es dann soweit. Kurz nach der Fertigstellung seines neuesten Horrorthrillers aus deutscher Produktion, Das Rätsel des Silbernen Halbmonds (1972), schickte sich Lenzi an, ein weiteres Mal Geld aus der Darstellung von Gewalt und Sex zu machen. Noch im gleichen Jahr drehte er seinen Film Il Paese de Sesso Selvaggio, auch unter den Titeln Man from Deep River oder Mondo Cannibale bekannt. Ein englischer Fotograf (Ivan Rassimov) marschiert durch die Dschungel Thailands und Burmas, wird Zeuge „primitiver sexueller Handlungen“ und diverser blutiger Auseinandersetzungen , wird dann gefangen und zur Heirat mit der Tochter (Me Me Lay) des Stammeshäuptlings gezwungen, nur um am Ende zum Herrscher über die unzivilisierten Wilden aufzusteigen. Anders formuliert: Dieser Film war ein ausgesprochen rassistisches Machwerk, welches von barbarischen Eingeborenen handelt, welche zivilisierte westliche Bürger abschlachten, sich am Ende jedoch der weißen Herrlichkeit unterwerfen müssen. Der Grundstein war gelegt.

Ein Sequel ließ nicht lange auf sich warten, aus Lenzis Mondo Cannibale wurde Ultimo Mondo Cannibale (1976, aka The Last SurvivorJungle Holocaust, u.a.). Der Film handelt von einer Expedition einer Ölfirma, welche zwei vermisste Mitarbeiter sucht und auf einer Insel in die Hände eines primitiven Stammes gerät. Ab diesem Zeitpunkt ist die Handlung dann auch nicht mehr sonderlich interessant, es geht genauso plump und rassistisch weiter wie in Umberto Lenzis Vorlage. Regie führte Ruggero Deodato und, wie es sich für ein mehr oder weniger legitimes Sequel gehört, spielt Me Me Lay auch in diesem Film als das unvermeidliche Dschungelmädchen wieder mit.

Im Gegensatz zu Lenzis Film sind sexuelle Handlungen hier nicht mehr ein Schwerpunkt der Inszenierung; Deodato ging es praktisch ausnahmslos um Gewalt. Neben der Darstellung von Folterungen und kannibalistischen Handlungen ging Deodato hier noch einen fatalen Schritt weiter: das Quälen und Töten von Tieren zum alleinigen Zwecke der Unterhaltung des Zuschauers, als Höhepunkt das langsame Erdrosseln eines lebenden Krokodils, wird regelrecht zelebriert.

Derartiges war zwar bereits in der Vergangenheit zu sehen gewesen, aber stets in anderem Kontext. So entstand im Jahr 1963 ein Film namens Mondo Cane, welcher letztendlich ein pseudodokumentarisches Flickwerk von echten und getürkten Szenen war, in welchen mitunter auch Tiere geschlachtet wurden.

Mit Snuff (1974) erschien ein ominöses südamerikanisches Filmchen, in welchen schreckenserregende Folter- und Mordszenen an Frauen in Szene gesetzt und mit Slogans wie „Solche Filme können nur in Südamerika entstehen, wo Leben wertlos ist“ als authentisch verkauft wurden, wobei sie letzteres jedoch nicht waren. Der Name „Snuff“ sollte bald als Synonym für jene sagenumwobenen Filme stehen, in welchen Leben vor laufender Kamera vernichtet wurde, um damit Geld verdienen zu können. Deodato war der erste, der sich konkret und zielstrebig der Tötung von Tieren bediente – und damit die Grenze zwischen der Phantastik und der Realität überschritt, worunter vor allem das bis zu diesem Zeitpunkt noch recht seriöse Genre des Horrorfilms leiden sollte.

Ultimo Mondo Cannibale wurde, ganz im Gegensatz zu Lenzis originalem Langweiler, zu einem großen Erfolg an den Kinokassen. Und wenn die Kasse klingelt, wurden italienische C-Picture-Regisseure stets hellhörig. So dauerte es nicht lange, bis Aristide Massaccesi – auch bekannt unter dem Namen Joe d’Amato – aus seinem Loch gekrochen kam und daraus die für ihn logischste Konsequenz aus dem Erfolg von Ultimo Mondo Cannibale und seinen eigenen Softpornos zog: die erneute Verquickung von Kannibalen mit Sex. So entstand Emanuelle e gli Ultimi Cannibali (1977, aka Trap Them and Kill Them), in welchem Laura Gemser als Emanuelle nackt durch den Regenwald schlendert und von den dummen Wilden als Gottheit verehrt wird. Letztendlich ist der Film nur eine ausgesprochen nervtötende Aneinanderreihung von schlecht inszenierter Gewalt, Softsex, schlecht inszenierter Gewalt, Softsex, usw. Ein bis ins kleinste Detail lächerlicher Film, aber wenigstens ein Gegenpol zu den unverblümten Inszenierungen lose aneinandergereihter Greueltaten, mit welchen Massaccesis Kollegen ihm den Weg bereiteten.

Kannibale überall

Ähnliches kann man auch von dem nächsten Vertreter der Kannibalenfilme sagen, wobei hier dann besonders deutlich wird, welch immenser kommerzieller Erfolg mit dieser Filmkategorie verbunden war. Sergio Martino schaffte es doch tatsächlich , für seinen Film La Montagna del Dio Cannibale (1978, aka Mountain of the Cannibal God) zwei international bekannte Gesichter als Hauptdarsteller anzuheuern: Ursula Andress spielt eine Frau, welche nach Neu-Guinea reist, um ihren vermissten Ehemann zu suchen. Ihr Führer wird von Stacy Keach verkörpert. Der vermisste Ehemann, oder besser gesagt seine Überreste, entpuppen sich als Kannibalengottheit. Stacy Keach wird verspeist, die Andress darf entkommen. La Montagna del Dio Cannibale hat zwar eine ausgesprochen bescheuerte Handlung – aber dafür hat er wenigstens eine. Zusammen mit den Schauspielern macht das schon genug aus, um seinen Vorgängern qualitativ weit überlegen zu sein, auch wenn es sich natürlich noch lange nicht um ein Highlight handelt , welches man gesehen haben sollte. La Montagna del Dio Cannibale ist insofern wichtig, daß er anschaulich vorführt, daß der Kannibalenfilm durchaus eine Richtung hätte einschlagen können, in welcher ein Plot, eine saubere Inszenierung und nicht allzu dämliche Dialoge noch etwas wert hätten gewesen sein können. Für Sex und deftige Brutalität war dennoch gesorgt; Ursula Andress nackter Körper dürfte für so manchen zusätzlichen Kinobesucher gesorgt haben und die Szene, in welcher einem liebestollen Kannibalen der Schwanz abgeschnippelt wird, hat Umberto Lenzi anscheinend derart gut gefallen, daß er die Szene zwei Jahre später klaute. La Montagna del Dio Cannibale ist der in filmischer Hinsicht definitiv beste Exploitation-Kannibalenfilm, den die Italiener jemals zustandegebracht haben. Aber er ist auch so ziemlich der erfolgloseste.

Der erfolgreichste Vertreter dieses unrühmlichen Genres folgte kurz darauf. Ruggero Deodato kehrte mit Cannibal Holocaust (1979, dtsch. Nackt und zerfleischt) zurück und schoß nun endgültig den Vogel ab. Den kommerziellen Erfolg von Ultimo Mondo Cannibale wollte er natürlich wiederholen, und hinzu kam noch, daß sein Kollege Lucio Fulci mit seinem brutalen Dawn of the Dead-Plagiat namens Zombi 2 (1979) die europäischen Kassen klingeln ließ, wie kaum ein anderer Exploitation-Filmer jemals zuvor. Deodato versuchte natürlich, seinen Film noch brutaler und abstoßender wirken zu lassen als all die anderen Filme, die bereits gedreht waren.

Und hierzu benutzte er einen der ältesten und fadenscheinigsten Tricks der Filmgeschichte. Wie war das nochmal mit dem Pornostreifen, welcher damit beginnt, daß ein intimes Tagebuch gefunden wird? Genau das gleiche praktiziert Deodato in Cannibal Holocaust, indem er mit Hilfe von angeblich gefundenem Filmmaterial inkl. wackliger Kamera, Kratzern und unscharfen Einstellungen genau jene fiktive Realität auf erzählerischer Basis zu erschaffen versucht, welche im Pornogenre seit jeher gang und gäbe ist.

Torture-Porn

Deodatos diesbezügliche Rechnung ging auf, der Film erscheint als so realistisch wie kein anderer Film aus diesen Reihen. Deodato trieb es natürlich noch zusätzlich auf die Spitze und ließ erneut Tiere vor laufender Kamera abschlachten, die abstoßendste Szene ist diesmal eine Riesenschildkröte, die bei lebendigem Leibe zerhackt und ausgeweidet wird. Deodato setzte dem Kannibalenfilm hiermit letztendlich den Gnadenschuß, aber das war ihm noch nicht genug; weitere unrühmliche Höhepunkte sind die Pfählung einer Frau, welcher der Pfahl durch die Vagina getrieben wird, bis er zu ihrem Mund wieder aus dem Körper austritt, eine gefesselte Person, welche in einen von Piranhas verseuchten Fluß geworfen wird und eine weitere Szene, in welcher man einer schwangeren Frau den Fötus aus dem Leib reißt, um ihn anschließend im Dreck zu verscharren.

Die Handlung des Films spielt schon gar keine Rolle mehr, für die Zielgruppe solcher Szenen jedenfalls mit Sicherheit nicht. Doch dummerweise ist eine Handlung vorhanden, und hier geht die Sauerei weiter, die Rassistenkacke ist erneut am dampfen. Der Film handelt von einer Bande von Dokumentarfilmern, welche im Dschungel die Eingeborenen quälten und daraufhin von diesen auseinandergenommen werden. Die dabei entstandenen „Dokumentaraufnahmen“ werden von einem Rettungstrupp gefunden, woraufhin man sich das Zeug natürlich genauer ansieht und, zusammen mit dem Zuschauer, Zeuge der Vorgänge wird. Das gnadenlos bekloppte an Deodatos Aussage ist, daß er mit dem Film die Sensationsgeilheit von Filmemachern anprangert, die alles filmen würden, um Geld zu verdienen. Für wie bescheuert hält Deodato sein Publikum, daß er annimmt, es würde nicht merken, daß er genau jenes kritisiert, was er mit Cannibal Holocaust selbst verkauft?

Die faule Ausrede, der Film sei im Gegensatz zu Umberto Lenzis Original ja gar nicht mehr rassistisch, da die Handlungen der Kannibalen ja nur die Gegenreaktion auf die Gewalttätigkeit der Weißen darstellt, ist dann nur noch die Kirsche auf dem Sahnehäubchen des Schwachsinns.

Denn die Maßlosigkeit bei der Inszenierung kannibalistischer Brutalitäten steht in keinem Verhältnis zum vergleichsweise zurückhaltenden und knappen Auslöser derselben und stellt auch stets den zentralen Punkt des Filmes dar. Cannibal Holocaust ist der in ideologischer Hinsicht unverschämteste aller Kannibalenfilme, aber gleichzeitig auch der renommierteste. Zu verdanken hat er dies vor allem seiner weltweiten Vermarktung durch das amerikanische Label United Artists. Cannibal Holocaust wurde verständlicherweise in einem knappen Dutzend Ländern verboten.

Wie weiter?

Jetzt konnte es eigentlich nicht mehr wilder werden, höchstens noch dümmer. Und in italienischen Landen gab man sich alle Mühe, dies auch Realität werden zu lassen. Es folgten noch einige Machwerke, von unfreiwilligen Lachnummern wie Zombi Holocaust (1979, dtsch. Zombies unter Kannibalen), über Fehltritte wirklich talentierter Regisseure wie jener von Antonio Margheriti, einem Zögling des Kultregisseurs Mario Bava, welcher unter anderem auch die zu Marketingzwecken Andy Warhol angedichteten Flesh for Frankenstein und Blood for Dracula inszeniert hatte, um sich dann mit Apocalisse domani (1980, dtsch. Asphalt-Kannibalen) in die Nesseln des Kannibalenmists zu setzen, bis hin zur Rückkehr des Vorzeigefaschisten und Paten des exploitativen Kannibalenschockers persönlich, Umberto Lenzi.

Lenzi kopierte Deodatos billige Masche umgehend für seinen zweiten Beitrag Mangiati Vivi (1980, dtsch. Lebendig gefressen): In New York wird ein mysteriöser Attentäter von einem Truck überrollt und hinterläßt eine Filmrolle, auf welcher Wir-wissen-schon-was zu sehen ist. Als Schauspieler verpflichtete der unter dem Pseudonym „Humphrey Humbert“ arbeitende Lenzi, wie zu erwarten war, Robert Kerman, den Hauptdarsteller aus Cannibal Holocaust und natürlich seine beiden alten Darsteller von 1972, Ivan Rassimov und Me Me Lay. In einer Nebenrolle kann man Mel Ferrer sehen. Mehr gibt es zu dem Film nicht zu sagen eben ein billiges, schlecht inszeniertes und verlogenes Machwerk mit viel Gewalt und wenig Hirn in bester Lenzi/Deodato-Tradition, welches rege Aufmerksamkeit bei den Zensoren aller Herren Länder fand.

Brexit

Den Engländern reichte es mittlerweile allmählich. Es begann eine gnadenlose Kampagne gegen den Horrorfilm, welche man zum größten Teil Cannibal Holocaust und Mangiati Vivi zu verdanken hat – nur eben, daß diese filmischen Rohrkrepierer mit dem Horrorfilm fast nichts zu tun hatten und in erster Linie andere Filme die Chose ausbaden mussten. Anläßlich einer Vielzahl von Beschwerden in der Öffentlichkeit legte der britische Director of Public Prosecutions eine Liste von 69 Filmen vor, welche seiner Meinung nach gegen den Obscene Publications Act verstoßen.

Angeführt wurde die Liste von Cannibal Holocaust und Mangiati Vivi. Der Fall landete vor Gericht und es endete damit, daß eine kleine Auswahl von Filmen im Rahmen des Video Nasties-Prozesses geprüft wurde. Neben Mangiati Vivi mussten noch Dawn of the Dead (1978, Regie: George A. Romero), I Spit On Your Grave (1978, Regie: Meir Zarchi) und Driller Killer (1979, Regie: Abel Ferrara) als Referenzen herhalten. Die Klage verlief erfolgreich, die Filme wurden verboten und die Video Nasties-Liste eingeführt.

Das British Board of Film Classification (BBFC) begann 1984 mit der Arbeit und auch Cannibal Ferox, welcher neben Cannibal Holocaust als der Film mit der extremsten Gewalt überhaupt gilt, musste nicht lange warten, bis auch er von der englischen Bildfläche verschwand – und jener von 30 weiteren Ländern.

Wieso Ferox?

Cannibal Ferox bietet sich als zu untersuchendes Beispiel nicht nur deshalb an, weil er der berüchtigste und am meisten beschlagnahmte Streifen der Serie ist. Darüber hinaus stellt der Film auch den praktisch letzten Vertreter des Italo-Kannibalismus dar, der während der Hochkonjunktur dieses Genres entstand, bevor es mit dem Genre wieder bergab ging.

Da die italienischen Exploitation-Regisseure von Lenzi über Deodato bis Fulci auch voneinander klauten wie die Raben, gilt bei dieser Filmgattung auch verstärkt das Motto „Einen gesehen – alle gesehen“, wodurch jüngere Werke auch besser für einen generellen Überblick dienlich sind.

Der einzige frappante Unterschied ist, daß man hier mittlerweile in keinster Weise mehr erwarten darf, eine Geschichte erzählt zu bekommen. Stattdessen findet man eher Parallelen zum klassischen Problem des Pornofilms vor: eine Handlung ist unerwünscht und eher störend. Die Aufgabe des Films ist, nackte Gewalt und eklige Szenen so perfekt und facettenreich wie möglich an den Mann zu bringen, die Handlungsfragmente dienen nur noch als Stichwortgeber. Welcher Protagonist wie umgebracht wird, ist die einzige Frage, deren Beantwortung Lenzis Kunden interessiert.

Lenzi langt hier auch voll zu, keine Frage. Was wie ein billiger Krimi beginnt, kommt nach einer ermüdenden halben Stunde allmählich auf Touren. Zum Aufwärmen bietet uns Lenzi die zwei Leichen zweier Eingeborener, welche von einer Art hölzener, mit Stacheln bewehrter Abrißbirne an einen Baum genagelt wurden und deren Körper bereits als Frühstück für die Käfer dient.

Gräueltaten für Aug und Tier

Gleich im Anschluß erleben wir einen Eingeborenen, welcher daumendicke, weiße Raupen schmatzend verzehrt – eine authentische Szene übrigens, kein Spezialeffekt, weshalb wir es uns auch gleich zweimal ansehen dürfen. Die Steigerung folgt auf dem Fuße, nachdem die Protagonisten unter Mikes Führung das Eingeborenendorf betreten: mit einer an einen Pfahl gefesselten, halbverwesten Leiche, auf deren Schädel noch dickere Raupen herumkrabbeln. In einem Rückblick erfahren wir in Kürze, was Mike den Eingeborenen antat: Ein Auge wird mit einer Messerspitze herausgepuhlt, ein Penis abgehackt (aber nur angedeutet, denn für mehr als eine Andeutung fehlte Lenzi sichtlich der Mumm). Wenige Minuten später wird Mikes frisch verstorbener Kumpel der Länge nach aufgeschnitten, ausgeweidet und seine Innereien verzehrt. Das alles geschieht innerhalb von 10 bis 15 Minuten, dann ist die Aufwärmphase abgeschlossen und das Publikum harrt neugierig der Dinge , die noch kommen werden. Die Erwartungen sind hoch, denn schließlich ist alles, was der Film bisher hergab, schonmal dagewesen und kann einen echten Kannibalen-Fan nicht mehr sonderlich beeindrucken.

Nun gut, lassen wir die Ironie beiseite. Für den Film hat die Darstellung der hier beschriebenen Gewaltszenen in etwa den gleichen Stellenwert, wie ihre von mir vorgenommene Beschreibung innerhalb des Textes. Diese Szenen sind der Kern des Films. Die eigentliche Handlung, welche zwischen den Gewalt- und Ekelszenen eingestreut ist, ist für den Film auch ebenso bedeutsam wie für obigen Textabschnitt, nämlich letztendlich überhaupt nicht. Wegen der Handlung – oder besser gesagt dem Herumlaufen illustrer Gestalten in der Landschaft – sieht sich niemand den Film an. Würde man die störende Handlung weglassen, wäre der Film in den Augen seiner Fans wahrscheinlich noch besser. Allerdings wäre er dann ziemlich kurz.

Phantasie off the leash

Bringen wir es hinter uns, lehnen wir uns im Kinosessel zurück und sehen uns an, was das Besondere an dem Film sein soll. Schließlich heißt es stets, Cannibal Ferox sei zwar nicht der Beste der Kannibalenschocker (was auch immer das bedeuten mag), dafür aber der phantasievollste. Um die Erwartungen seiner Zuschauer und den Ruf des Films kümmert sich Lenzi auch in der Tat in der letzten halben Stunde. Mike wird gefangengenommen und entmannt. Die Piranha-Szene läßt natürlich auch nicht lange auf sich warten und der Zuschauer kann sehen, wie sich einer der Fische so richtig ins Fleisch eines Beines verbissen hat. Und dann natürlich der Showdown, hier legt sich Lenzi nochmal richtig ins Zeug. Mike erhält seine gerechte Strafe. Er wird gezwungen, unter einem Tisch zu knien, in dessen Tischplatte ein Loch gesägt ist. Sein Schädel wird in dieses Loch gesteckt, so daß der oberhalb der Augenbrauenwülste befindliche Teil aus dem Tisch herausragt. Mittels einer Machete wird die Schädeldecke abgeschlagen und während Mike noch unter dem Tisch herumzappelt, wird sein Gehirn gegessen. Der absolute Höhepunkt ist kurz darauf erreicht, als Pat die Bluse vom Leib gerissen wird und große Fleischerhaken ihr Interesse auf sich ziehen. Diese Fleischerhaken werden in Großaufnahme durch ihre Brüste gebohrt und Pat daran in die Höhe gezogen, wo sie dann langsam sterben darf (ist sie jetzt koscher?). Jo, das war’s dann endlich, das jauchzende Publikum wird wieder in die Freiheit entlassen und wir haben einen weiteren Film gesehen, denn die Welt nicht nur nicht braucht, sondern für den sie sich zum größten Teil schämt.

Das Fass läuft über

Das eigentliche Problem des Films liegt mal wieder ganz woanders. Es hat letztendlich wohl keiner was dagegen, wenn jemand Geld dafür ausgibt, daß ein derartiger Mist produziert wird. Wenn sich jemand gerne aufgespießte Titten ansieht, soll er es meinetwegen tun – besser, er tötet seine Phantasie dadurch ab, daß er gerne dabei zusieht, wie andere tölpelhaft vorgeben, Schreckliches zu tun, als daß er nachts davon träumt und am nächsten Morgen unter einer feuchten Bettdecke aufwacht (und sollte dies dennoch der Fall sein , war derartiger uninspirierter Mist mit Sicherheit nicht der Auslöser). Der Zuschauer weiß, daß all dies nicht echt, sondern inszeniert ist – und wer es nicht weiß, kann es sofort sehen, denn die Masken sind einfach nur noch grausam schlecht und blutige Szenen absolut durchschaubar.

Doch auch Lenzi übertritt zwangsläufig die Grenze dessen, was akzeptabel ist. Er läßt Tiere quälen und töten, um seinen Film attraktiver zu machen, für wen auch immer. Und nicht nur das, er schwelgt hierbei auch noch in Maßlosigkeit. Da wäre zum Beispiel das kleine Ferkel. Etwa 30 cm lang, schwarz und einfach nur noch niedlich, so niedlich, daß Pat es als Haustier adoptiert. Lenzi will anfangs vielleicht für einen Lacher sorgen, als daß angeleinte Tier in einer Kurve aus dem fahrenden Jeep geschmissen wird und quiekend in der Luft baumelt … auf jeden Fall ist es mal wieder eine Übung zum Aufwärmen. Einige Zeit später bekommen wir es nämlich mit einer Szene zu tun, in welcher das Tier an einem Pflock angeleint wird, ähnlich wie die Ziege in Jurassic Park, welche als Futter und Lockmittel für den T-Rex dienen soll. Was folgt ist der qualvolle Todeskampf des Ferkels in der Umschlingung einer Boa Constrictor.

Auge für Auge?

So richtig widerlich wird es jedoch erst, wenn man Lenzi davon schwärmen hört, wie schlau er doch war, als er diese Szene inszenierte: Die Schlange wurde vorher gut gefüttert, damit sie etwas halbherzig bei der Sache war und ihr Opfer nicht sofort tötete und fraß. Somit hatte Lenzi nach eigener Aussage etwa 15 Minuten Zeit , die Szene in den Kasten zu kriegen. Man kann sich sicherlich über den Sinn und Zweck von Zensur streiten und die meisten Filmfreunde und Kinogänger der heutigen Zeit sprechen sich zwar gegen das Verbot von Filmen aus, aber seien wir mal ehrlich: Ein Film, für welchen derartige Dinge getan werden, verdient es nicht anders. Und der Regisseur gehört gedroschen, bis er Blut kotzt (ob er was dagegen hätte, wenn man es filmt und verkauft?).

Lenzi war das jedoch noch lange nicht genug. Wir bekommen es noch mit einer Szene zu tun, in welcher ein Tiger einen frisch erlegten Affen herumträgt. Gut, diese Szene muß nicht unbedingt einen ähnlichen Hintergrund haben. Wenn jedoch, wie in einer anderen Szene, sich eine Schlange durch den Staub bewegt und plötzlich vom oberen Bildrand ein Leguan auf sie herabplumpst, kann man wohl davon ausgehen, daß hier erneut Lenzi und seine Gesellen die Hand im Spiel hatten. Da das Abschlachten einer Schildkröte in Deodatos Cannibal Holocaust erfolgreich war, muss natürlich auch in Cannibal Ferox wieder eine Schildkröte leiden – diesmal wird sie auf den Rücken gedreht und ihre Gliedmaßen abgehackt. Doch dann gibt es da noch eine Szene aus der ersten Hälfte des Films, welche mir besonders im Gedächtnis hängen blieb, und welche mich immens anwidert, seit mir die Hintergründe dieser Szene bekannt sind.

Radice vs. Lenzi vs. Schwein

In dieser gewissen Szene soll erstmals angedeutet werden, daß Mike doch nicht der gute Junge ist, den er zu sein vorgibt. Gloria ist in eine Grube geplumpst, in welcher auch ein Wildschwein gefangen ist. Gloria hat Angst vor dem Schwein, aus welchem Grund auch immer, und schreit um Hilfe. Mike hüpft in die Grube, tötet das harmlose Schwein mit einem Messer und hat sichtlich Freude an dieser Tat. Giovanni Lombardo Radice, der Darsteller des Mike („John Morghen“ war sein Pseudonym, welches für italienische Schauspieler und auch Regisseure seit Mitte der 60er praktisch Pflicht war), erzählte 1997 eine Anekdote zu den Dreharbeiten dieser Szene. Er erzählt, daß Lenzi ihm am Vortag angesprochen habe, „Übrigens, morgen drehen wir die Szene, in welcher Du das Schwein tötest“. Radice erwiderte „Wie, was, ich soll ein Schwein töten? Vergiß es.“ Lenzi daraufhin: „Robert De Niro würde es tun.“ Radice:

„Robert De Niro würde deinen Arsch die ganze Strecke nach Rom treten.“

Das Ende vom Lied war, daß das Schwein dann eben von einem der vom kolumbianischen Militär angeheuerten Helfer getötet und Radices Gesicht reingeschnitten wurde . Es kam Lenzi offenbar nicht einmal in den Sinn, auf die etwa eine halbe Sekunde andauernde Nahaufnahme zu verzichten und das Tier am Leben zu lassen. Und offensichtlich hat sich seine Einstellung hier auch im Laufe der Jahre nicht geändert, denn auf Radices Schilderung reagierte Lenzi nur mit den Worten: „Mittlerweile sind 16 Jahre vergangen und der Kerl regt sich immer noch auf. Es war doch nur ein Schwein.“

Giovanni Lombardo Radice wäscht seine Hände allerdings doch etwas übertrieben in Unschuld. Schließlich kam er damals auch nicht auf die Idee, seine weitere Mitarbeit zu verweigern, oder diese Verweigerung zumindest anzudrohen. Eigentlich war eher das Gegenteil der Fall, Radice war endlos scharf auf diese Rolle. Seinen bis dahin bekanntesten Auftritt hatte er in From einer Nebenrolle als Bob in Lucio Fulcis Paura nella Città dei Morti Viventi (1980, dtsch. Ein Zombie hing am Glockenseil) und hatte sich fest vorgenommen, zu einer Größe im italienischen Horrorfilm aufzusteigen, und hierzu wäre eine Hauptrolle in einem Lenzi-Kannibalenstreifen durchaus dienlich. Ursprünglich nur für eine Nebenrolle vorgesehen , überzeugte er Lenzi und durfte schließlich doch den Mike spielen. Viel genutzt hat es ihm trotz weiterer Rollen wie in Margheritis eingangs erwähnten „Apocalisse domani“ allerdings nicht – noch heute erinnert man sich nur an ihn als den Kerl, dem in Cannibal Ferox der Schwanz abgehackt wird.

Und die Machart?

Wie zu erwarten, sind die schauspielerischen Leistungen unter aller Sau. Der einzig interessante Auftritt ist jener von Richard Bolla als amerikanischer Inspektor (Bolla war eigentlich Porno-Darsteller). Das gleiche betrifft auch die äußerst dilletantische Regie. Man wird sich schnell bewußt, weshalb sich Lenzi recht schnell auf derartige Exploitation-Filme verlegte, nachdem er selbst als Auftragsregisseur drittklassiger Filmprojekte oftmals überfordert war. Hier hatte er endlich etwas gefunden, was dafür sorgte, daß sich die Leute an seinen Namen würden erinnern können. Seine Karriere hat es letztendlich jedoch auch nicht gerettet. Zum Glück, könnte man sagen, denn verdient hätte er es sich nicht, eher das Gegenteil.

Must-See?

Es gibt keinen Grund, sich das Zeug anzusehen. Die Neugier wird nicht befriedigt werden. Erstens ist gerade Cannibal Ferox derart schlecht in Szene gesetzt, daß das angebliche Skandalöse in erster Linie deshalb Ekel erzeugt, weil es eben so dilletantisch ist. Man darf auch nicht vergessen, daß ein derartiger Film nie so grausam sein kann, wie man ihn sich vorstellt – schon alleine deshalb, weil er keinen Freiraum mehr für die Phantasie läßt, sie sich nicht entwickeln kann und die Erzeugung des Schreckens im Bewußtsein des Zuschauers so schon im Keim erstickt wird. Die Beschreibung der Gewaltszenen zu lesen oder ein Einzelbild derselben zu sehen, ist weitaus abstoßender, als sie sich im Film letztendlich offenbart.

Das Schlimmste an den Filmen ist neben ihrer nahezu unerträglichen Dummheit vor allem die gähnende Langeweile, welche sich gerade bei Cannibal Ferox sehr wohl zu fühlen scheint (etwa 90% aller brutalen Szenen sind im etwa 3 bis 4 Minuten langen deutschen Kinotrailer zu sehen – was da noch übrigbleibt, ist in etwa so interessant und unterhaltsam wie das gute alte Testbild im Fernsehen).

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